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InDebate: Wenn die Weltrettung an 148 Mails scheitert. Handlungsprobleme in der säkularen Spätmoderne

Veröffentlicht am 9. Dezember 2013

Marie-Christine Kajewski

 

Die Propheten stehen heutzutage nicht auf Marktplätzen und sie halten ihre Botschaften nicht auf Transparenten in die Höhe. Stattdessen sind sie gefeierte Popstars, die als Protagonisten der Kulturindustrie dem gesellschaftlichen Selbst nicht nur einen Spiegel vorhalten, sondern dessen Befindlichkeit ebenso in vermarktungstaugliche Identifikationsformen gießen. Die Zeichen der Zeit lassen sich in Youtubeclips lesen, deren Popularität durch die Anzahl der jeweiligen Likes praktisch quantifiziert wird. Millionenfach gemocht und zudem wegen seiner eingängigen Melodie zum Sommerhit des Jahres ausgerufen wurde AVICIIs Wake me up – ein Lied, in dem das lyrische Ich feststellt, dass es die Probleme der Welt nicht alleine schultern kann und daher den sehnlichen Wunsch formuliert, ebendiese Probleme zu verschlafen und erst geweckt zu werden, wenn alles vorbei ist. Scheinbar gegenteilig dokumentiert TIM BENDZKO in seinem gleichermaßen populären Song Nur noch kurz die Welt retten seinen aktiven Versuch der Weltrettung, der allerdings durch das Checken wichtiger Emails immer weiter aufgeschoben wird.

 

Beide Lieder reflektieren unspezifisch auf brennende globale Probleme, deren Konkretisierung einem jeden leicht gelingt: Die bittere Armut der südlichen Hemisphäre mit unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen; Bürger- und Staatenzerfallskriege mit den einhergehenden Flüchtlingsströmen; die drohende ökologische Katastrophe. Während Wake me up angesichts der Überforderung des Einzelnen eine handlungsverweigernde, apathische Reaktion auf diese Herausforderungen schildert, verliert Nur noch kurz die Welt retten in einem übersteigerten Aktionismus das eigentliche Ziel aus den Augen. Apathie und Aktionismus als vermeintlich konträre Verhaltensweisen eint, dass sie keine zielführende Handlung hervorbringen und die anvisierten Problemlagen somit weiterhin bestehen. Der Grund dafür aber liegt in einem Motivationsdefizit.

 

Motivation als Motor einer Handlung entsteht, wenn Beweggrund und Antrieb zusammenfallen. Die Gründe, den globalen Problemen mit tätigem Engagement entschieden entgegenzutreten, sind sowohl aus Eigennutz als auch aus moralischer Verantwortung für den Anderen leicht einsehbar. Allein es fehlt der Antrieb. Dieser entspringt dem seelischen Bereich des Unbewussten, Affektiven, Emotionalen und kann sowohl als individueller Antrieb im Egoismus oder der Selbsterhaltung hervortreten als auch als Strebung des Über-Sich-Hinaus-Seins, die sich auf mitmenschliche Teilhabe im Mit- und Füreinandersein richtet. Die Leidenschaft ist der stärkste exzentrische Antrieb von Geselligkeit, Hilfe und Wohlwollen. Wieso aber fehlt die Leidenschaft, die globalen Probleme anzupacken? Wieso berühren uns diese Probleme nicht in dem Maße, in dem sie uns betreffen?

 

Die Leidenschaft als starke Strebung des Über-Sich-Hinaus-Seins entspringt dem Bedürfnis, das menschliche Ungenügen zu übersteigen. Dieses Ungenügen besteht in Vergänglichkeit und Vereinzelung, die insofern aufeinander bezogen sind, als die Vergänglichkeit die Vereinzelung in der Zeit und die Vereinzelung die Endlichkeit im Raum bezeichnet. Es sind diese beiden Grunderfahrungen der menschlichen Existenz, die derzeit nicht mehr transzendiert werden können, da sie auf Dauer gestellt sind. Nicht ohne Grund spiegeln die beiden Lieder Erfahrungen von befristeter Zeit und Einsamkeit. Die Logik der allumfassend gewordenen Arbeitswelt ist nicht die vorgebliche des Teams, sondern die des mobilen, flexiblen, immer  verfügbaren Einzelnen, der überall und nirgends und ständig erreichbar ist. Zeit für den Anderen oder gar Mußestunden haben hier keinen Platz. Parasitär ergreift die Arbeitswelt von uns Besitz und saugt mit ihrem Effizienzzwang jeglichen Antrieb auf.

 

Damit Antrieb entstehen kann, brauchen wir nicht bloß eine Pause von den Zwängen der Arbeitswelt, wir brauchen eine andere Zeit. Unlängst hat BYUNG-CHUL HAN die Notwendigkeit dieser anderen Zeit festgestellt, indem er die narrative Zeit, die sich nicht beschleunigen lässt, mit der additiven Zeit der Leistungsgesellschaft vergleicht. Scharfsinnig spürt HAN dabei jene Zeitformen auf, die eine neue Zeit stiften können: Die Zeit als Gabe, die ich dem Anderen gebe, und die Zeit des Festes als Beginn der heiligen Zeit. Sowohl die Zeit als Gabe als auch die Zeit des Festes eröffnen den Raum des Über-Sich-Hinaus-Seins. Die Zeit als Gabe ist horizontal auf den Anderen gerichtet, die Zeit des Festes hingegen transzendiert vertikal, denn im religiösen Geschehen passiert der leidenschaftliche Versuch der Entzeitigung. Die vertikale Transzendenz aber ist nicht nur die notwendige Bedingung der horizontalen, sie ist zudem der Nährboden, in dem Antrieb und Leidenschaft allererst gedeihen können.

 

Um die Zeit des Festes erleben zu können, gehört das säkulare Paradigma überwunden. Dies meint nun nicht die bloße Proklamation eines postsäkularen Denkens, welches im Dialog mit den Religionen steht, sondern stattdessen die Profanierung des Säkularen mit dem Ziel, sowohl das Profane als auch die Religion zurückzugewinnen. Wie GIORGIO AGAMBEN überzeugend herausgearbeitet hat, ist das Säkulare nämlich nicht der Bezwinger des Religiösen. Vielmehr hat es die religiösen Kräfte lediglich verschoben, die himmlischen Mächte auf die Erde versetzt und die kapitalistische Religion hervorgebracht, welche den Zugang zum verlorenen Fest mit Konsumspektakeln aller Art versperrt. Die Profanierung ist angesichts dessen jene notwendige Geste, die die Vorrichtungen der Macht entkräftet und dem allgemeinen Gebrauch zurückgibt. Und wo das Profane ist, dort ist auch sein Gegenüber, die wahre religio, die sich als besorgtes Zögern äußert.

 

In diesem besorgten Zögern, diesem Innehalten kann dann auch ein neues Fest gefeiert werden. Ein Fest, dass eine andere – heilige – Zeit, freisetzt, in der leidenschaftlicher Antrieb entstehen kann, wodurch zielführende  Handlungen jenseits von Apathie und Aktionismus möglich werden. Eben solche aber sind dringend notwendig. Bleiben sie aus, wird aus der düsteren Prognose von TOM WAITS bittere Realität: And the earth died screaming / while I lay dreaming / dreaming of you…

 

Marie-Christine Kajewski ist Geschäftsführerin des Diözesanrates der Katholiken im Bistum Hildesheim. Die promovierte Politikwissenschaftlerin und Diplom-Theologin war von Oktober 2010 bis April 2012 Fellow am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover. Weitere Informationen zu Marie-Christine Kajewski finden Sie hier und hier.

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2 Kommentare

  1. Lieber Herr Manemann,
    haben Sie vielen Dank für Ihren Hinweis auf Levinas‘ Transzendenzverständnis, das mir bislang nicht bekannt war. Meine Überlegungen gehen von einem existenzphilosophischen Transzendenzbegriff aus. Daher verstehe ich Transzendenz als den Ursprung menschlicher Existenz, der unser Dasein stiftet. Anders als ein Beginn ist dieser Ursprung nicht bloßer Startpunkt, sondern er durchdringt jeden Moment der individuellen Existenz. Diese ursprüngliche, vertikale Transzendenz scheint mir jeder horizontalen notwendig vorauszuliegen, da letztgenannte ja nur vorfindbar ist, weil menschliches Dasein zuvor gestiftet wurde. Von daher würde es mich sehr interessieren zu erfahren, wie Levinas die Gleichursprünglichkeit von horizontaler und vertikaler Transzendenz konzipiert.
    Das Zögern ist sicher als ein Signum unserer Zeit zu verstehen – da kann ich Ihnen nur zustimmen. Doch scheint Agamben mit dem besorgten Zögern gerade kein zögerliches Sich-nicht-einlassen-Können zu beschreiben. Von Heidegger her gelesen eignet dem ‚besorgten‘ Zögern das Moment der Sorge und der Fürsorge, die sich nur in einer entsprechenden Praxis der Um- und Mitwelt gegenüber konkretisiert. ‚Zögernd‘ ist diese Sorge insofern, als sie innehält und sich Zeit für diese Praxis nimmt und eben nicht blindlings losstolpert und dabei Sackgassen als Wege missinterpretiert. Ein besorgtes Zögern lenkt unsere Pfade voran in Richtung eines Ziels.
    Mit besten Grüßen, Marie Kajewski

  2. Liebe Frau Kajewski, mir scheint es notwendig, die horizontale und die vertikale Transzendenz gleichursprünglich zu denken. Das leuchtet natürlich nur ein, wenn horizontale Transzendenz primär nicht im Sinne der Gabe, sondern im Sinne eines Anspruchs verstanden wird, der vom Anderen ausgeht. In dieser Horizontalität kommt dann zugleich eine vertikale Transzendenz ins Spiel, durch die die „Zeit zerspringt“ (Lévinas). Weiter: Ist die Rede vom „besorgten Zögern“ sinnvoll in einer Zeit, die sich durch Zögern auszeichnet? Kafka: „Es ist eine Zeit, aber kein Weg. Was wir Weg nennen, ist ein Zögern.“ Soweit meine ersten Gedanken zu Ihrem Beitrag. Es grüßt Sie Jürgen Manemann

Beitragsthemen: Kunst | Moderne | Öffentlichkeit | Religion

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