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Hypnophobie – ein Impuls

Veröffentlicht am 13. Oktober 2025

Von Jesse Hahn

»Wacht endlich auf!« Diese Mahnung ist virulent.[1] Sie zirkuliert durch alle Sphären und Konfigurationen des gesellschaftlichen und politischen Geistes unserer Zeit. Was sich darin ausdrückt ist zuerst einmal eine Verachtung des Schlafes, eine Hypnophobie. Diese Verachtung ist nichts Neues – sie ist sogar durchaus bezeichnend für die europäische Neuzeit und Moderne. Der Schlaf hat hier einen schlechten Stand: sei es, weil er von sündiger Trägheit zeugt, weil er rationales Denken und autonomes Handeln aussetzt, oder weil er die Kapitalvermehrung stört.[2] In diesen Fällen allerdings bezeichnet der Schlaf, dieses vermeintliche Übel der vermeintlich zivilisierten Gesellschaften, eine Grundbedingung menschlichen Daseins überhaupt.

Hinter der Konjunktur der Wachheitsmetapher in aktuelleren Zeiten hingegen verbirgt sich zudem noch etwas anderes, weitaus Gefährlicheres: die Diffamierung der Anderen. Schlafen tun immer nur die. »Wacht endlich auf!«, ruft der angeblich hellwache Verstand zur Ordnung. Wer wach ist, steht, so könnte man sagen, auf einer höheren Stufe der Erkenntnis. Der Schriftsteller Florian Werner schreibt: »Er mag noch derselbe Mensch sein wie zuvor, er verfügt über dieselben Sinnesorgane, den identischen Körper – aber er hat begriffen: Was er vor Kurzem noch für die Wahrheit gehalten hat, ist nichts weiter als eine Chimäre, eine Scheinwelt, ein Traumgespinst; im schlimmsten Fall ein von finsteren Mächten orchestrierter Verblendungszusammenhang, der ihn in kognitiver Knechtschaft halten soll […].«[3]

Das klingt – nicht erst aus philosophischer Perspektive – ebenso reißerisch wie bedrohlich. Und es unterscheidet die Wachheitsmetapher von anderen, gängigen Bildern der Erkenntnis, wie z.B. dem Sehen oder der Orientierung. Wer nichts sieht, weiß das in aller Regel. Wer sich verlaufen hat, weiß um den Verlust von Orientierung. Wer hingegen schläft, hält das Geträumte für die Realität, weiß nicht um den eigenen prekären Stand. Wer also den anderen einen wachen Geist abspricht, einen Dämmerzustand angesichts vermeintlich offen daliegender Fakten unterstellt, unterstellt damit gleichzeitig, dass es schlicht keine geteilte Wirklichkeitsebene gibt.[4] 

Und nun?

In letzter Konsequenz wird diese Unterstellung zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Wissen ist nicht neutral, sondern wesentlich Überzeugung. Und wem die Überzeugung einer geteilten Wirklichkeit fehlt, oder anders: Wer überzeugt ist, dass wir keine gemeinsame Wirklichkeit teilen, dem_der wird diese Überzeugung zum Wissen und dieses Wissen handlungsleitend. Realität wird dann schnell zu etwas gewissermaßen Unvordenklichem und Objektivität zu einem Lohn, den sich eben nicht alle verdient haben.

Zwar stimmt es, dass die Vorstellung einer Wirklichkeit, die wir einfach nur wahrzunehmen bräuchten, um uns miteinander auf selbstidentische Zusammenhänge abzustimmen, im philosophischen Diskurs – um es vorsichtig zu sagen – ihre besten Tage hinter sich hat. Fragt sich nur, welche Konsequenzen wir daraus ziehen. Denn es ist Vorsicht geboten, diesen Umstand zum unhinterfragten Vorzeichen der Weltbegegnung werden zu lassen, wenn nicht auch seine ethischen Implikationen bedacht werden. Noch mal: Wissen ist nicht neutral, aber auch Überzeugungen sind es nicht. Anstatt daraus allerdings eine Aufgabe, eine Verantwortung für die Welt, die Anderen, und nicht zuletzt für sich selbst abzuleiten, zeichnet sich immer mehr die Tendenz einer Isolierung ab. »Stimmst Du nicht von vornherein mit mir überein, was für einen Sinn hat dann eine Auseinandersetzung?«

In dem Moment, da Voreingenommenheit zu einem Indikator für Vertrauen gerät, wird die Unsicherheit, die allein durch Vertrauen überbrückt werden kann, stillgestellt, und das vermeintliche Vertrauen evoziert Zersplitterung statt Zusammenhalt. Was dieser Zersplitterung dann zuletzt ihren Grund gibt, ist eben die Erfahrung, mit der sie zugleich beginnt: Die Erfahrung einer Wirklichkeit, deren Ordnung nicht alle teilen.

Das zeigt: Diese Ordnung ist nichts, das außerhalb unseres Einflusses steht. Wäre sie von uns unabhängig, hätten wir vielleicht sogar überhaupt gar kein Problem damit, uns widerspruchslos über sie zu verständigen. Dass dieses Problem besteht, demonstriert im Umkehrschluss, dass sie gerade nichts Unvordenkliches, nichts einfach Gegebenes ist, sondern dass wir sie hervorbringen, in jedem Moment, und zwar alle. Daraus erwächst eine Verantwortung, eine Aufgabe, in jedem Moment, für alle. Und diese schwierige Aufgabe gehen wir am besten an, wenn wir vor allem eines sind: gut ausgeschlafen.

© Jesse Hahn


[1] Der Text entstand als Manuskript für einen kurzen Redebeitrag auf dem Utopia-Festival von musica assoluta (Hannover, 05.-07.09.2025).
[2] Schouwink, Theresa: Editorial, in: philosophie-Magazin, Sonderausgabe 26, Herbst 2023. Hier S. 3.
[3] Werner, Florian: Über Wachen und Schlafen, in: philosophie-Magazin, Sonderausgabe 26, Herbst 2023. Hier S. 15.
[4] Vgl. ebd., S. 15-17.

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