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Dürfen wir in einer Blase existieren?

Veröffentlicht am 27. September 2017

Die Frage danach, ob wir in einer Blase existieren dürfen, müsste zunächst mit der Frage beginnen, ob es möglich ist, außerhalb einer Blase zu existieren, in der uns politisch und lebensweltlich einheitliche Informationen geboten werden bzw. in welcher wir die uns angebotenen Ideen lediglich aufgrund einer vorgefassten Meinung annehmen oder ablehnen. Mit der kritischen Theorie von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer[1] gesprochen, die Massenkultur als homogenisierte/homogenisierende Kraft und die Aufklärung selbst als Massenbetrug im Dienste des technischen Fortschritts beschreiben, müsste diese Frage weitgehend verneint werden. Durch Massenkultur werden die gesellschaftliche Öffentlichkeit sowie die Bedürfnisse und Weltbilder der Menschen vereinheitlicht und entlang einer Sachzwangrationalität geordnet: Der Einzelne wird in die Rolle eines Konsumenten oder eines zweifelhaften Amateurs gesetzt, der unter der Kontrolle und den Filtern der vorherrschenden Kräfte mitspielen, jedoch nicht kulturell oder politisch mitgestalten darf.

Die Rolle des Alltagsverstandes, verstanden als ein Gemenge aus ethisch-moralischen Werten, kulturellen Normen, religiösen Überzeugungen und körperlich-praktischen Orientierungen im Bewusstsein der Individuen, wird in der Perspektive der kritischen Theorie entscheidend problematisiert; sie ist von Wichtigkeit, wenn wir uns die Frage stellen, inwiefern unsere Gesellschaften auf eine gute Weise durch politisches Handeln verändert werden können. In den neomarxistischen Arbeiten von Antonio Gramsci kommt dem Alltagsverstand ebenfalls eine elementare Geltung zu, wenn es darum geht, in Krisenzeiten die Gesellschaft unter der Führung der herrschenden Gruppe zu halten: Der Alltagsverstand besitzt eine Eigenständigkeit, die die ökonomischen Verhältnisse, wie auch weitere Herrschaftsverhältnisse, stabilisieren kann, da die in ihm verinnerlichten Herrschaftsstrukturen zum Konsens mit der eigenen Unterdrückung führen. Gramscis Überlegungen zu Hegemonie zeigen, wie ein solcher Konsens mit Unterdrückungsformen über symbolische Gewalt entsteht, die Machtverhältnisse kulturell legitimiert. Massenkultur, Alltagsleben, Institutionen und Ideologie erscheinen damit als ein unumgängliches Gefüge von Herrschaftsverhältnissen[2].

Beide der oben angerissenen theoretischen Perspektiven beschreiben also eine gewisse Geschlossenheit der Möglichkeiten in Gesellschaft und Politik, in der jedoch die Problematik des Denkens schlechthin zum Ausdruck kommt: Wenn der Verstand, also eben das, was uns das eine als „richtig“ und das andere als „falsch“ erfahren lässt, nicht nur an der grundlegenden Begrenztheit des eigenen Erkenntnisrahmens leidet (in dem Sinne, dass die individuellen Erfahrungshorizonte notwendigerweise von einer Reihe von Faktoren abhängig sind und sehr unterschiedlich ausfallen mögen), sondern ebenfalls dieser Erkenntnisraum maßgeblich durch vorherrschende Ideologien geformt ist, dann wird kritisches Denken zu einer Unmöglichkeit. Denn dann ist alle Erkenntnis darüber, was das Wesen des Menschen ausmacht und welches (politische und ethische) Handeln daran zu knüpfen sei, potentiell einem falschen Bewusstsein geschuldet und bleibt daran gebunden, welchem ideologischen Lager man angehört. Für das Denken in Info- und Filterblasen potenziert sich diese Problematik, wenn diese stark weltanschaulich geschlossen sind, weil dort die Offenheit und Nachvollziehbarkeit des eigenen Denkens für andere Menschen[3] verunmöglicht wird: Wer sich ausschließlich in einem Raum aufhält, in dem die Mitmenschen das eigene Denk- und Wertemodell schon weitgehend teilen, muss sich um die Nachvollziehbarkeit für andere nicht kümmern .

Sich in der eigenen Erkenntnis- und Werte-Blase aufzuhalten, schafft ebenfalls in der digitalen Welt eine Komfortzone. In den Filterbubbles der digitalen Welt unterschlagen personalisierte Suchalgorithmen auf Websites oder sozialen Netzwerken die zu vorherigen Eingaben konträren Inhalte und lassen so Infoblasen von Gleichgesinnten entstehen. In solchen Echokammern verengt sich die Meinungsbildung und die Spaltung zwischen lebensweltlichen und politischen Lagern intensiviert sich.[4] Manche schreiben den kulturellen und ideologischen Bubbles auf Plattformen wie Twitter und Facebook einen signifikanten Einfluss auf die Wahlergebnisse der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl 2016 zu. Problematisch sind Filterbubbles aber nicht nur, weil sie weltanschaulich und moralisch homogenisierte Inhalte bereitstellen, sondern ebenfalls, weil sich dort irreführende Informationen unangefochten verbreiten und sich zu einem unüberbrückbaren Hindernis für einen konstruktiven Dialog zwischen den politischen Lagern verstärken.[5] Es scheint also so, als sei es in der digitalen Welt noch weniger möglich, außerhalb einer ideologisch-weltanschaulichen Blase zu sein.

Die Frage danach, ob wir innerhalb einer Blase existieren dürfen, lediglich damit zu beantworten, ob wir jenseits von Blasen existieren können, ist allerdings ein einseitig bleibendes Herangehen an die Problematik. Gerade die oben genannten Theoretiker sind gute Beispiele dafür, wie wir uns beständig an der uns greifbar werdenden Wissens- und Erfahrungsgrenze zermürben.

Als zwischenmenschliches Beispiel eines solchen Aufreibens kann eine Aktion von ZEIT Online[6] im Sommer 2017 genannt sein, für die 1.200 Menschen überall in Deutschland zum politischen Zwiegespräch vermittelt wurden. Das Ziel war es, zwei sich unbekannte Menschen mit möglichst gegensätzlichen politischen Ansichten zusammenbringen. Hinter der Aktion stand explizit die Idee, durch den persönlichen Dialog der Spaltung der Gesellschaft in geschlossene Filterblasen entgegen zu wirken. Eines dieser „Polit-Dates“ wird im Artikel beschrieben wie ein wertvolles und zugleich befremdliches Eintauchen in eine reale Parallelwelt, die neben der eigenen existiert und zu der man nur ausnahmsweise Zutritt erhält. Im persönlichen Kontakt finden beide Personen trotz konträrer politischer Meinung zu einigen Übereinstimmungen oder zu dem einen oder anderen Hinweis darauf, wo genau ihre Ansichten auseinandergehen. Vor allem aber wird deutlich, wie wenig diese Ansichten nachvollziehbar sind, wenn sie nicht durch bereits gefasste Wissens- und Interpretationssysteme fassbar werden. Dies legt nicht nur nahe, dass wir tatsächlich zu schnell bereit sind, uns Dingen und Meinungen zuzuwenden, über die wir bereits „Bescheid wissen“ bzw. mit welchen wir konform gehen, sondern ebenfalls zeigt es, wie wertvoll es ist, wenn uns abweichende Interpretationen der Welt auf die Prüfung stellen.

Diese „Hilflosigkeit des dialogischen Verfahrens“ ist also ebenso frustrierend wie notwendig. Denn in der Info- oder Werteblase gibt es keine Widersprüche (und damit weder eine Neugierde auf das Außerhalb noch die Befähigung zur Belehrbarkeit), sondern nur eine Folge von Erscheinungen außerhalb der Filterblase, deren Vorhersage den in der Blase Verbliebenen einen Lustgewinn verschafft. Sollte man sich aber, nach anfänglicher Ablehnung, trotzdem an vielschichtigere Deutungen gewöhnen, wird man nicht „zurück in die Höhle wollen“.[7]

Gramsci zog den Schluss, dass Alltagsverstand und darauf aufbauende Ideologien sowohl in konservativer als auch in revolutionärer Weise in kulturellen Auseinandersetzungen zwischen den herrschenden und den arbeitenden Klassen wirken können. Er favorisiert zwar einen relativen Wahrheitsbegriff, unter dessen Linse alles zu Ideologie wird, lässt dies jedoch trotzdem nicht in einen Relativismus münden. In seinem Denken wird kein Zweifel daran gelassen, welche Gruppe respektive Klasse hegemonial werden soll. Er nimmt an, dass sich politischer Fortschritt darin zeigt, den Erfahrungen und Belangen der in der Klassengesellschaft Marginalisierten einen verpflichtenden Charakter zu verleihen, um ihre Hegemonialwerdung im Sinne einer breiteren Interessensolidarität und Wertebildung zu ermöglichen. Ein „Nicht zurück in die Höhle Gehen“ hätte hier die Bedeutung, trotz abweichender Lebenshintergründe und trotz lebensweltlicher Filterblasen an der Möglichkeit einer übergreifenden und umfassenden Solidargemeinschaft zu arbeiten.

Zu den wichtigsten Aufgaben von Parteien gehört es, die politischen Ansichten großer Bevölkerungsgruppen zu bündeln, also sozusagen eine breite ideologische Blase zu bilden. Es ist jedoch ebenfalls grundlegend, dass sie einen gewissen Grad der Durchlässigkeit erhalten, um einer zu starken Abgeschlossenheit vorzubeugen. Die zentrale Aufgabe politischer Parteien ist daher ebenfalls, einen inhaltsreichen und nachhaltigen politischen Streit untereinander zu führen, der zu belastbaren Ergebnissen kommt, anstatt den politischen Streit zu nutzen, um sich über Provokationen abzugrenzen und sich für eine inhaltliche Auseinandersetzung zu verschließen.

Für den Wissenschaftsbetrieb, der letztlich auch ein Testfeld für Überzeugungen und Gewissheiten darstellt, könnte man Ähnliches einfordern. Dies ist mit Bezug auf das „Gender-Bashing“ zu sagen, das in den letzten Jahren beständig zugenommen hat und das einen Angriff auf verschiedene Erkenntnisse oder Praxen aus dem feministischen Spektrum darstellt, um sie als ideologisch „falsch“ zu diskreditieren. Der Auftrag der Genderforschung liegt jedoch gerade darin, ideologiekritisch zu befragen, inwieweit beispielsweise Geschlecht soziale oder kulturelle Dimensionen besitzt; wie Geschlecht mit Macht, oder Sprache mit Stereotypen korreliert. Eine pauschale Verachtung für Genderforschung kann jedoch als Angriff auf das Wesen der Wissenschaft selbst, als Aufkündigung des wissenschaftlichen Auftrages verstanden werden, weil sich die pauschale Ablehnung einer inhaltlichen Prüfung selbst entzieht: Wer ausnahmslos über sie spottet, tut dies im Zeichen einer anti-akademischen Ideologie und kaum aus einer als angewandten Skepsis verstandenen Wissenschaft heraus.[8]

Eine kritische Wertschätzung der Vielfalt wissenschaftlicher Themenfelder und Herangehensweisen macht, ebenso wie ein belastbarer politischer Diskurs über Lager hinweg und wie die Bereitschaft, sich hin und wieder in die Parallelwelt des Gegenübers zu begeben, eine gute Strategie aus, um den Effekt von Filterblasen zu minimieren. Daher ist es zwar vermutlich nicht möglich, außerhalb einer Blase zu existieren. Trotzdem dürfen wir nicht in einer Blase verbleiben, denn die politische Kultur und die Wissenschaft (und vermutlich auch jede zwischenmenschliche Beziehung) leben davon, dass Menschen jeden Tag erneut versuchen, ihre spezifischen Begrenzungen zu begreifen, um sich an ihnen, ihren Mitmenschen zugewandt, abzuarbeiten.

[1] Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W. (2015 [1969]): Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug, Reclam. Herausgegeben von Ralf Kellermann.
[2] Vgl. Robin Jacobitz (1991): Antonio Gramsci. Hegemonie, historischer Block und intellektuelle Führung in der internationalen Politik; Arbeitspapier Nr. 5 der Forschungsgruppe Europäische Gemeinschaften des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften und Philosophie der Philipps-Universität Marburg; 10.
[3] Nach Bollnow, Otto Friedrich (1962): Die Objektivität der Geisteswissenschaften und die Frage nach dem Wesen der Wahrheit; in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 16. Jg. 1962, 11.
[4] Eli Pariser (2012): Filterbubble: Wie wir im Internet entmündigt werden, Carl Hanser Verlag.
[5] Mostafa M. El-Bermawy (2016): Your Filter Bubble is Destroying Democrazy auf Wired; URL: https://www.wired.com/2016/11/filter-bubble-destroying-democracy/ (17.08.2017).
[6] Jochen Wegner (20.06.2017): Einen Mirko gibt es hier nicht; URL: http://www.zeit.de/gesellschaft/2017-06/deutschland-spricht-streit-politische-auseinandersetzung (13.09.2017). Dazu auch Streiten Sie schön! ; URL: http://www.zeit.de/gesellschaft/2017-06/deutschland-spricht-teilnehmer-methode-ergebnisse (13.09.2017).
[7] Hans Blumenberg über Platons Höhlengleichnis (1989): Höhlenausgänge; Frankfurt am Main, Suhrkamp; 87.
[8] Daniel Hornuff (13.09.2016): Gender-Bashing ist der neue Volkssport; URL: http://www.deutschlandfunkkultur.de/angriff-auf-geschlechterforschung-gender-bashing-ist-der.1005.de.html?dram:article_id=365689 (14.09.2017).

© Agnes Wankmüller

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