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Gleichheit vor dem Virus! – Verwundbarkeiten in der Corona-Krise[1]

Veröffentlicht am 7. Mai 2020

„Nackt in der Badewanne“ verkündete Madonna in einem Videoclip, dass das Coronavirus „der große Gleichmacher“ sei, und stellte dabei erleichtert fest: „Wenn das Schiff untergeht, gehen wir alle zusammen unter.“[2] Eine solche Aussage zeugt von Blindheit gegenüber den unterschiedlichen Verwundbarkeiten, denen unterschiedliche Menschen aufgrund unterschiedlicher Gefährdungen in der Corona-Pandemie ausgesetzt sind. Zu Recht rieben sich einige Fans die Augen; verwundert ob derlei Weltfremdheit mahnten sie: „Entschuldige, meine Königin, ich liebe dich so sehr, aber wir sind nicht gleich. Wir können durch die gleiche Krankheit sterben, aber die Armen werden am meisten leiden. Romantisiere diese Tragödie nicht“.[3]

Das Virus – ein großer Gleichmacher? Für Madonna liegt in der Vorstellung von der gleichmachenden Todeskraft des Virus ein Trost, muss sie doch nicht allein untergehen. Wenn andere mitsterben, sei das eigene Sterben nicht ganz so schwer – so ihre Annahme. Allerdings lässt sich das Sterben nicht delegieren. Im Blick auf das Coronavirus wäre zu formulieren: Wir gehen alle unter, aber nicht gemeinsam. Corona: das bedeutet Seuchentod. Und das ist ein sehr einsamer Tod. Die Idee vom Tod als großem Gleichmacher ist nicht neu. Sie findet sich auch in den spätmittelalterlichen Totentänzen. Aber anders als bei Madonna ging der Gedanke dort mit einer radikalen Sozialkritik einher. Die Erkenntnis, dass die Pest alle Menschen in gleicher Weise mit dem Tod bedroht, gerann hier nicht zur billigen Vertröstung. Die Gleichheit im Tod offenbarte die Ungleichheit im Leben.

Ja, das Virus ist ein Gleichmacher. Es kann jeden Menschen treffen. Aber es trifft nicht jeden Menschen. Wir sollten es deshalb auch nicht mit Lothar Wieler (Präsident des Robert Koch-Instituts) als „demokratisch“ bezeichnen. Das Virus entfaltet keine freiheitlich-egalisierende Wirkung. Im Gegenteil, es geht mit der Einschränkung von Grundrechten einher. Nun könnte natürlich eingewandt werden, dass die rhetorische Absicht einer solchen Rede in eine andere Richtung ziele: Wir Bürger*innen müssen zusammenhalten und gemeinsam handeln, weil diese Gefahr uns alle bedroht. Intendiert wäre also die Aufforderung zur Solidarität, genauer zur Zwangssolidarität. Eine solche Rhetorik hat jedoch Nebenwirkungen. Sie vernebelt die asymmetrische Gemengelage, die Faktizität unterschiedlicher Gefährdungen. Statt vom Gleichsein zu reden, wäre stattdessen Gleichbehandlung einzufordern. Analog zur Forderung der Gleichheit vor dem Recht wäre die Forderung nach Gleichheit vor dem Virus zu stellen. Dabei wäre aber so von Gleichheit zu sprechen, dass die Forderung zur Gleichbehandlung die spezifische Benachteiligung von bestimmten Menschen in der Corona-Krise nicht zudeckt, sondern offenlegt. Gleichheit vor dem Virus – das hieße mit den spezifischen Eigenperspektiven dieser Menschen auf ihre Verwundbarkeit zu beginnen. Die Aufgabe bestünde also darin, unsere Rede von Gleichheit im Blick auf konkrete Menschen mit ihrer spezifischen Verwundbarkeit angesichts sozio-politischer und kultureller Hegemonien zu befragen.[4] Eine solche Rede von Gleichheit besäße das Potential, ein gesellschaftskritisches Solidaritätsempfinden hervorzurufen.

Wenn Judith Butler lakonisch registriert: „das Virus diskriminiert nicht“, dann zielt sie mit dieser Feststellung darauf ab, uns für die unterschiedlichen Verwundbarkeiten zu sensibilisieren, die aus politisch hergestellten Diskriminie­rungen resultieren. Menschen sind nicht gleich verwundbar. Wir wissen das, aber wir wissen das scheinbar nur im medizinischen, nicht im dezidiert politischen Sinn. So sprechen wir von „vulnerablen Personen“, „vulnerablen Gruppen“, sogenannten „Risikogruppen“. Nun gehen derartige Kennzeichnungen nicht selten mit einer paternalistischen Haltung gegenüber diesen Personengruppe einher. Interessant ist jedoch in der gegenwärtigen Debatte, dass in der Verwendung dieser Begriffe häufig auch unausgesprochen ein Appell an das Solidaritätsgefühl der weniger vulnerablen Personen mitschwingt, achtsam und vorsichtig im alltäglichen Umgang mit Personen zu sein, die verwundbarer sind als andere. Das ist nicht selbstverständlich im öffentlichen Diskurs, denn für gewöhnlich bedeutet Solidarität hier entweder Zwangssolidarität (s.o.) oder Zwecksolidarität, das heißt, ich bin mit anderen solidarisch, weil es für mich von Vorteil ist. Beide Solidaritäten sind wichtig. Sie sind Ausdruck einer Bündnissolidarität: Ich unterstütze dich, damit du mich unterstützt. Beide Solidaritäten laufen jedoch immer auch Gefahr, zum bloßen Abbild einer Tauschgesellschaft zu verkommen. Die appellative Verwendung des Adjektivs „vulnerabel“ in der Corona-Krise zielt hingegen auf eine Solidarität, die eine auf Tausch angelegte Beidseitigkeit durchbricht. Sie verlangt von uns ein solidarisches Handeln, das in der differenzsensiblen Wahrnehmung von Verwundbarkeiten gründet. Diese Solidarität bleibt angesichts des Coronavirus nicht bei der Erinnerung daran stehen, dass wir alle verletzbar sind. Sie zwingt uns genauer hinzusehen, zu erkennen, dass es, wie Butler herausgearbeitet hat, neben dem allgemeinen Gefährdetsein des Lebens durch Tod, Krankheit, Verwundbarkeit, Unfälle, Unsicherheiten und Gewalt auch Gefährdungen gibt, denen nicht alle Körper gleich ausgesetzt sind. Es gibt Körper, die sind besser geschützt als andere. Diese Erkenntnis benötigen wir heute dringender denn je. In der gegenwärtigen Krise könnte eine differenzsensible Wahrnehmung von Verwundbarkeit ein Solidaritätsempfinden mit den Menschen hervorrufen, die aufgrund spezifischer Verwundbarkeiten und Verwundungen stärker gefährdet sind.

Aber die Wahrnehmung von Verwundbarkeit führt nicht zwangsläufig zu Solidarität. Sie birgt auch Risiken in sich. So besteht etwa die Gefahr, dass gerade die Wahrnehmung der spezifischen Verwundbarkeit anderer eine Erinnerung an die eigene Verletzlichkeit generiert, die kein Solidaritätsempfinden auslöst, sondern Furcht, und zu neuen Herrschaftsformen führt. Potenzielle Verwundbarkeit geht immer auch mit der Gefahr des Missbrauchs einher. Des Weiteren ist zu bedenken, dass die Kennzeichnung „vulnerabel“ eine Markierung nach sich ziehen kann, die zu einer Stigmatisierung der vulnerablen Person führt und deren Ausgesetztheit zur Folge hat. Zudem bedeutet die Wahrnehmung einer größeren Verwundbarkeit nicht automatisch mehr Schutz, wie gerade ein Blick auf die Debatte über die intensivmedizinische Behandlung in Corona-Zeiten zeigt.

Gleichheit vor dem Virus! – Das heißt, Verhältnisse zu etablieren, die unsere Empfindsamkeit für die spezifische Verwundbarkeit Anderer fördern. Diese Empfindsamkeit ist die Voraussetzung dafür, die Menschenwürde des einzelnen zu erfahren und anzuerkennen. Es ist unsere Würde, die sich allen Versuchen, unser Leben zu bepreisen, widersetzt. Wer Gleichheit vor dem Virus fordert, muss kritisch fragen: Wer spricht wie, wo, wann und mit welcher Absicht von Verwundbarkeit? Mit der Forderung nach Gleichheit vor dem Virus geht der Aufruf einher, die unterschiedlichen Verwundbarkeiten als politisch inszenierte Gefährdungen wahrzunehmen und sich für deren Abschaffung einzusetzen.

© Jürgen Manemann


[1] Der Text stellt einen Auszug aus einem Beitrag des Autors in folgendem Buch dar, das im Juli 2020 erscheinen wird: Christian Keitel, Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.), Die Corona-Gesellschaft. Analysen der Lage und Perspektiven für die Zukunft. transcript Verlag. 19,50 Euro; ISBN: 978-3-8376-5432-5.
[2] Madonna über Coronavirus: „Wenn das Schiff untergeht, gehen wir alle zusammen“, in: Spiegel-online https://www.spiegel.de/panorama/leute/madonna-ueber-coronavirus-wenn-das-schiff-untergeht-gehen-wir-alle-zusammen-a-53909c44-35ea-4f73-9fca-6de1acaff191 24.03.2020 (abgerufen am 09.04.2020).
[3] Zit. n. ebd.
[4] Vgl. zum Verständnis von Gleichheit: C. Menke, Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philosophie nach Adorno und Derrida, Frankfurt 2004, 38.

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