InDebate: Kritik im Ungefähren. Gedanken zu Thomas Bauers Lob der Ambiguität

Marvin Dreiwes

Entgegen der Beschwörung einer zunehmenden Pluralität diagnostiziert der Islamwissenschaftler und Arabist Thomas Bauer in seinem vielbeachteten Essay Die Vereindeutigung der Welt den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt in modernen westlichen Gesellschaften. Das, was sich beispielsweise als Multikulturalität gibt, ist für Bauer nur eine »Scheinvielfalt«, kulturelle Diversifizierung bloß eine flache Vermassung von Inhalten und die Fülle des Konsumangebots eine austauschbare Ware. Der Begriff, den Bauer für seine Analyse in Anschlag bringt, ist »Ambiguität«. Zunächst zielt er damit auf die Ebene der Bedeutung ab. Ambiguität beschreibt den Umstand, dass ein Gegenstand, eine Person oder eine Situation nicht eindeutig zu bestimmen ist. Entgegen der epistemischen Binsenwahrheit, die diese Uneindeutigkeit primär als Wissensdefizit beschreibt und auf die Endlichkeit, Fehlbarkeit oder Perspektivität menschlicher Erkenntnisse zurückführt, denkt Bauer Ambiguität grundlegender: Wirklichkeit ist in einem starken Sinne vieldeutig. Es handelt sich also nicht um eine defizitäre Ambiguität, die als provisorischer Zustand zu lesen wäre und hinter der immer noch eine regulative Idee der Eindeutigkeit stünde. Ebenso wenig geht es Bauer um einen schlechten Ausdruck oder Äquivokation, also um Mehrdeutigkeiten, die zu tilgen wären. Ambiguität wird vielmehr verstanden als hermeneutisches Grundprinzip, das Sinn und Offenheit erst ermöglicht und damit letztlich existenzielle Züge in sich trägt. Schließlich kann Ambiguität niemals völlig vermieden werden, denn gemäß des von Bauer eingeführten »Ambiguitäts-Erhaltungs-Gesetzes« erzeugt jeder Versuch, Eindeutigkeit herzustellen, neue Formen der Ambiguität. Ambiguität ist ein labiler, aber nicht vollständig zu überwindender Zustand. Allerdings – und hier folgt Bauer gewissen Einsichten aus der Psychologie – liege es in der Natur des Menschen, wenn möglich, Ambiguität zu meiden. Wir tendieren sozusagen zu einer »Ambiguitätsintoleranz«. Die Ambiguitätstoleranz dagegen, wie sie Bauer fordert, stünde dann für eine Haltung, die die Spannungen, die aus der inhärent mehrdeutigen Wirklichkeit und den zum Teil widersprüchlichen Perspektiven bestehen, aushält.

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InDebate: Leit- als Leidkultur. Die Leitkulturdebatte im Kontext der kulturellen Moderne

Paul Stephan

Wie bewertet man eigentlich Kulturen? Nietzsche etablierte dafür die Unterscheidung zwischen Leid- und Freudkulturen. Jene haben das primäre Ziel, Leid zu vermindern, diese wollen Freude vergrößern. Jene basieren auf negativen Stimmungen wie Angst, Wut und Kränkung, ihr Grundbedürfnis ist das nach Sicherheit; diese auf positiven Affekten wie Mut, Gelassenheit und Stolz, sie stehen im Zeichen der Freiheit. Jene neigen dazu, sich abzuschotten und imaginäre Kompensationsmechanismen zu entwickeln, die ihre Angehörigen in falscher Sicherheit wiegen. Diese sehen in der Konfrontation mit dem Außen gerade Bedingung ihrer Stärke und Möglichkeit des eigenen Wachstums, Leiderfahrungen werden in ihnen nicht unbedingt vermieden, sondern als notwendige Bedingungen der Freude erkannt. Jene tendieren dazu, mit der Möglichkeit des Leids auch die intensiver Freude aus der Welt zu schaffen. Diese sind jenen vorzuziehen: Es sind Kulturen des Wachstums und der Lebensfülle, Leidkulturen solche der Stagnation und des Niedergangs. Die Dominanz einer Leidkultur ist Symptom tiefliegender Pathologien an der Basis einer Gesellschaft. Weiterlesen

InDebate: Cultural Appropriation or Cultural Dialog?

newphoto Michael Thomas

Michael L. Thomas

Back in August, many Americans distracted themselves with an extended conversation about whether San Francisco Quarterback Colin Kapernick’s refusal to stand during the national anthem before NFL games was an „appropriate“ form of protest against police brutality or, somehow, disrespectful to members of the US military. This discussion diverted attention from the murders of Alton Sterling and Philando Castile, which gave rise to the protest, while simultaneously ducking away from actual dialog about patterns of racism in America. As we now know, Americans’ inability to directly confront issues of race in this context was an ominous portent of things to come. The election of Donald Trump and subsequent explosion of racial violence have brought racism bubbling up to the surface of everyday life, thus beginning a the new low point in the cyclical narrative of racial inequality in the US.  Weiterlesen

InDebate: Post-Racial Discourse and American Genocide

Skitolsky Foto

Lissa Skitolsky

Over the past three years the media in the United States has drawn attention to the epidemic of racist murders perpetrated by police officers against unarmed young black men and women (the five murders that received the most attention were those of Michael Brown, Eric Garner, Tamir Rice, Sandra Bland and Freddie Gray). These events provoked new protests against police brutality and our racist system of mass incarceration at the same time that the media and our politicians portrayed each murder as an “exception” to the norm of a just Justice system that was no longer informed by structural discrimination against African Americans. As President Obama has reminded the nation after every publicized police murder of a young black man, we “have come a long way” since the Civil Rights era of legal segregation and Jim Crow. Since Obama’s election as the first black president of the United States, the media has referred to the American present as a ‘post-racial’ society and scholars have started to explore how this ‘post-racial discourse’ has informed (mis)representations of state violence and precluded opportunities for political activism in the United States. Weiterlesen