InDebate: Emotionen und Demokratie

Jürgen Manemann

Demokratie ist mehr als eine Regierungsform. Sie ist eine Lebensform. Und sie ist vor allem eins: ein Ereignis. Zur Demokratie befähigt werden wir durch unsere Leidempfindlichkeit, welche die Voraussetzung dafür ist, nicht nur das eigene Leid, sondern auch das Leid Ander*er wahrzunehmen. Demokratie zeichnet sich überdies durch eine Differenzsensibilität aus, die der Motor von Pluralität ist (für ausführliche Literaturhinweise zum Folgenden siehe Manemann 2019).

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InDebate: Es ist kompliziert! Zur möglichen Wahlverwandtschaft zwischen Politik und Wissenschaften

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Marvin Dreiwes

„Ein Wissenschaftler ist kein Politiker, der wurde nicht gewählt und der muss nicht zurücktreten. Kein Wissenschaftler will überhaupt so Dinge sagen wie: Diese politische Entscheidung, die war richtig. Oder diese politische Entscheidung, die war falsch. Oder diese politische Entscheidung, die muss jetzt als Nächstes getroffen werden. Sie hören das von keinem seriösen Wissenschaftler. […] Die Wissenschaft bekommt damit langsam wirklich ein Problem mit dieser doppelten Aussage, die sowohl von der Politik, wie auch von der Wissenschaft kommt. Beide Seiten sagen, die Politik trifft die Entscheidungen und nicht die Wissenschaft. Das sagt sowohl die Politik, wie auch die Wissenschaft. Dennoch wird weiterhin immer weiter dieses Bild des entscheidungstreffenden Wissenschaftlers in den Medien produziert. Wir sind hier langsam an einem Punkt, wo dann demnächst auch die Wissenschaft in geordneter Weise den Rückzug antreten muss, wenn das nicht aufhört.“
– Christian Drosten, NDR Info: Coronavirus-Update. Folge 24, 30.03.2020.

Die Corona-Krise zeigt, wie viel Unsicherheit in der Verhältnisbestimmung von Politik und Wissenschaft besteht. Politische Entscheidungsträger*innen – so scheint es – waren noch nie so sehr auf wissenschaftliche Expertise angewiesen, aber auch in der Gesellschaft selbst findet sich ein Verlangen nach eindeutigen wissenschaftlichen Erklärungen und Empfehlungen. Zugleich finden sich Wissenschaftler*innen wie nie zuvor in der medialen Öffentlichkeit präsentiert und damit zugleich in Debatten, für die sie nicht immer gerüstet sind.[1] Trotz eines Grundvertrauens gegenüber Wissenschaftler*innen[2] führt deren Sichtbarkeit zu der Frage: Wie sehr können und müssen sich Wissenschaftler*innen in die Politik einmischen? Und wie stark können und müssen Politiker*innen wissenschaftliche Ergebnisse als Grundlage ihrer Entscheidungen gewichten?

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InDebate: Corona im Kontext

Ein philosophisch-polemisches Plädoyer für eine andere Corona-Politik

Paul Stephan

Vorbemerkung: Aufgrund der Aktualität des behandelten Themas möchte ich diesem Artikel den Hinweis voranstellen, dass er sich auf die Situation am 6. April 2020 bezieht. Etwaige neue politische Entscheidungen oder neu bekanntwerdende Kenntnisse mögen die geschilderten Sachverhalte in einem anderen Licht erscheinen lassen. Die philosophische Reflexion findet in der Regel mit einer leichten Verzögerung statt – das ist meist nicht so schlimm, doch angesichts der ungeheuren Geschwindigkeit der gegenwärtigen Ereignisse, wird einem die Langsamkeit des Denkens schmerzhafter als sonst bewusst. – Gelingt es freilich, vermag das Denken vielleicht sogar den realen Ereignissen selbst heute noch ein Stück weit voraus zu sein …

Mittlerweile hat sich eine recht intensive philosophische Debatte zu Corona[1] entfaltet. Während die einen, am prominentesten Giorgio Agamben, aber auch viele andere,[2] die gegenwärtig herrschende Corona-Politik der Regierung als autoritäres Regime betrachten, das mit dem realen Ausmaß der Bedrohung nichts zu tun habe, gibt es andere Stimmen, die genau diese Politik als alternativlos begrüßen.[3] Sie werfen den Kritiker/innen vor allem vor, 1) keinen Sinn für die reale Gefahr zu haben, 2) verschwörungstheoretisch zu denken und 3) eine nicht zuletzt auch unmoralische Position zu vertreten, die darauf hinauslaufe, das Leben von Hundertausenden, wenn nicht gar Millionen alter und kranker Menschen in Gefahr zu bringen. 4) Wird den Kritiker/innen[4] dann oft auch noch unterstellt, bewusst oder unbewusst selbst von verborgenen Motiven getrieben zu sein und bspw. in Wahrheit die Interessen der Großunternehmen zu vertreten.[5] Im Folgenden möchte ich in einer möglichst unaufgeregten Art und Weise auf diese vier Argumentationen eingehen und aufzeigen, warum sie mich nicht von meiner u. a. dort[6] dargelegten Meinung abgebracht haben, dass wir es im Augenblick mit einer massiven autoritären Wende in der Politik weltweit zu tun haben, für die die Corona-Pandemie nur als Vorwand genutzt wird, gegen die auf unterschiedliche Art und Weise Widerstand zu üben eine ethische Verpflichtung ist. Auf die notwendige Natur dieses Widerstands möchte ich im Schlussteil dieses Textes zu sprechen kommen.[7]

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InDebate: Gleichberechtigung. Die ZEIT ist reif für Veränderung: die Zweite

Agnes Wankmüller

Im InDebate-Artikel vom 27.07.2018 wurde die Art und Weise kritisiert, wie die ZEIT mit den Artikeln „Der bedrohte Mann“ von Jens Jessen (05.04.18) und der Replik „Mann irrt“ von Bernd Ulrich die Abbildung eines ausgewogenen Meinungsspektrums suggeriert. Dazu wurden einige zentrale Positionen der Artikel zusammengetragen. Im Folgenden werde ich meinen Kommentar zu den ersten beiden Auszugssegmenten zur #metoo-Debatte und zur Verantwortungszuweisung in aller Kürze nochmals zusammen fassen und ausführlicher zum dritten Punkt übergehen, der sich mit dem Verhältnis von Feminismus und Universalismus beschäftigt.

1) „#metoo geht zu weit“

… Nö.

2) „Feministinnen halten alle Männer für Triebtäter“

… Nö.

3) „Vernunft und allgemeine Menschenrechte sind mit der feministischen Forderung nach Gleichheit nicht angezielt.“

Jessen: „Glauben die Frauen, die den Vernunftgrund des abendländischen Humanismus kündigen, für alle Frauen zu sprechen?“ „Ihre Ideologie zwingt sie dazu, die Geschlechter über jede Individualität hinweg absolut zu setzen: Männer als Besitzer von Macht, Frauen als deren Opfer“.

Ulrich: „Es brauchte eine Weile bis ich mich auf den im Grunde sehr simplen Gedanken bringen ließ, dass es für die jungen Frauen egal ist, ob früher alles schlimmer war, dass sie Profiteurinnen von Kämpfen sind, die andere vor ihnen ausgefochten hatten. Sie sahen und sehen schlicht nicht ein, warum sie überhaupt noch einen Nachteil für ihr Geschlecht in Kauf nehmen sollten.“ „Schließlich wurde Alice Schwarzers Kampf gegen häusliche Gewalt in den Siebzigern von vielen als ebenso übertrieben empfunden und hingestellt wie 1983 die Forderung der Grünen Petra Kelly im Bundestag, Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe zu stellen, was dann erst 1997 geschah.“ „Wer sich allein auf die Vernunft und die allgemeine Menschlichkeit beruft, wer die existentiellen Unterschiede in ethnischer, sexueller und sozialer Sicht ignoriert, der verfehlt die Wirklichkeit und degradiert die Vernunft zum Werkzeug bestehender Machtverhältnisse“. Weiterlesen